PODIUM ESSLINGEN
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Forderer Logos

Widersprüche, die weiterführen

Ein Text von Volker Hagedorn

Als es im Jahr 2000 in Österreich die rechtspopulistische FPÖ in die Regierungskoalition schaffte, war der Komponist Georg Friedrich Haas so entsetzt, dass er „in vain“ schrieb, ein mit Mikrotönen operierendes Stück für 24 Instrumente. „Wie etwas überwunden Geglaubtes wieder an die Oberfläche kommt“, sagte er später darüber, im September 2009, das habe ihm als Grundstruktur gedient. „Aber die Struktur ist schön! Viel zu schön! Sie passt gar nicht zu dem, was diese Regierung gemacht hat … Politisch motivierte Musik schreiben kann ich nicht, viele können das. Vielleicht ist es mit der politischen Kraft von Musik so: Solange ich es will, funktioniert ́s nicht, und wenn ich es nicht will, kann sie, wenn ich Glück habe, da sein.“

Politisch, sagte der Dirigent Michael Gielen mit 82 Jahren, sei schon „der Versuch, die Intelligenz zu benutzen beim Musizieren“. In Beethovens Neunte, in allzu vielen Jubelfesten ihrer utopischen Kraft beraubt, montierte er 1978 „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schönberg hinein. Und den Triumphmarsch, mit dem im zweiten Finale von „Aida“ der siegreiche Radames begrüßt wird, hielt er für eine absichtlich schlecht komponierte Musik: Das Vulgäre werde da ausgestellt. „Verdi war, glaube ich, glühender Pazifist und hatte sicher seine Zweifel an den kolonialen Aspekten seines Auftrags, [den ihm der osmanische Vizekönig von Ägypten erteilte].“ Mit Gielen am Pult zeigte 1981 der Regisseur Hans Neuenfels, wie die besiegten Äthioper im Triumphmarsch gedemütigt werden; man wirft ihnen Brathähnchen zum Fraß vor wie Tieren. Das war zunächst mal ein Skandal. Aber es änderte die Wahrnehmung dieser Oper bis heute - die Weltgeschichte lieferte ja auch immer neue Beispiele für den menschenverachtenden Umgang mit ,Besiegten‘.

Der Komponist Haas, dem das Politische in der Kunst verschwand, der Dirigent Gielen, der in der Kunst das Politische suchte - diese beiden Positionen zeigen schon, wie viel Produktives sich hinter dem Sammelbegriff ,Politik‘ verbirgt, wenn er auf den Sammelbegriff ,Musik‘ bezogen wird. Es geht ja keineswegs nur um dezidiert politische Musik, sei die nun für oder gegen ein System geschrieben, von Hymnen ganz zu schweigen. Wie politisch es auch sein kann, die Musik vom gesellschaftlichen Diskurs abtrennen zu wollen, zeigt das Motto der ersten Bayreuther Festspiele nach dem Ende des ,Dritten Reichs‘ „Hier gilt’s der Kunst“, dieser Satz aus den „Meistersingern“ meinte als Motto so viel wie: Über Politik reden wir hier nicht, schon gar nicht über die Nähe zwischen Hitler und Bayreuth, das ist vorbei, Schluss, aus! Aber es hat Wagners Werken und ihrer Rezeption dann überhaupt nicht geschadet, dass der Antisemitismus auch des Komponisten in die Diskussion und auf die Bühne kam.

Spätestens seitdem setzt man sich mit einer zentralen Widersprüchlichkeit von Kunst auseinander. Das Werk ist autark und bekanntlich oft klüger als der*die Autor*in. Doch Werk und Autor*in sind nicht zu trennen, Werk und Rezeption ebenso wenig. Auch in der Kunst hinterlässt Missbrauch anhaltende Spuren, sodass wir selbst bei Anton Bruckner nicht vergessen können, dass der ,Führer‘ ihm huldigte. Zugleich ist die Autarkie jeglicher Musik keine weltflüchtende Projektion. Sie trifft sich mit der Autarkie der Interpret*innen und der Hörer*innen. Weder von dem*der Autor*in noch von der Rezeptionsgeschichte müssen sie sich sagen lassen, was sie in der Kunst, im ,herrschaftsfreien Raum‘, zu finden haben. Vielleicht kann man aber gerade aus dieser Freiheit heraus das Politische als etwas Erweiterndes wahrnehmen.

Es macht etwa Johann Sebastian Bachs Musik nicht geringer, wenn man den lutherischen Antijudaismus kennt, in dem er sozialisiert wurde und den er als Kirchenmusiker belieferte wie jeder andere lutherische Kirchenmusiker seiner Zeit. Es macht seine Größe aus, dass, zum Beispiel, die Wutchöre der Juden in der „Matthäuspassion“ historisch multipel gehört werden können. Es ist eine Perspektive darin, in der man jegliche Mobdynamik erkennt, vom römischen Reich über das Deutschland um 1700 bis heute. Dass Werke wie dieses ihrer Zeit entragen, ist gerade kein Grund, sie von ihr abzulösen. Wie kämen wir unmittelbarer ins Spannungsvorfeld der Pariser Julirevolution von 1830 als mit der „Symphonie fantastique“, die da entstand? In einer Stadt, in der die Guillotine eben nicht nur der Alptraum eines Künstlers im Allegretto non troppo war, sondern blutige Realität vor dem Rathaus. Hector Berlioz kannte sie gut.

Wie ist es aber mit der dezidiert politischen Musik, deren Komponist*innen etwas ändern wollen in der Welt? „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“, so unterbricht einer der Studenten in Goethes „Faust“ seinen singenden Mitzecher, und bei vielen Ohrenschmausern hält sich der Verdacht, dass Politik die Musik versaut. Man muss nur Hanns Eisler hören, um sich vom Gegenteil zu überzeugen, oder, in unserer Zeit, Steve Reichs „Three Tales“, eine „video opera“ mit Dokumentaraufnahmen und Instrumentalist*innen über Fanale des technischen „Fortschritts“, am erschütterndsten „Bikini“, betreffend die Nuklearwaffentests, die die USA bis 1958 auf den Marshallinseln durchführten. Mit unabsehbaren Folgen für die hier lebenden Menschen, die hoher Strahlung ausgesetzt wurden.

Man kann die Aufführung bedrückt verlassen, noch viel mehr aber mit einer heftigen Liebe zur geschundenen Welt und Menschheit, gestärkt und motiviert, sie sofort besser zu machen. Musik - auch unabhängig von den Absichten ihrer Autor*innen - kann uns erleben lassen, „dass die Dinge auch ganz anders sein könnten“, wie es der amerikanische Philosoph Timothy Morton formuliert. Dafür braucht sie allerdings einen Kontext, der dieses Potential freisetzt. Wo etwa nur bewährtes Kernrepertoire zelebriert wird, wo neue Musik und solche von Komponistinnen bestenfalls in Sonderreihen vorkommen, wird zwar durchaus auch Politik gemacht, nur keine, die die Intelligenz ermuntert.

Musik kann uns auch freilich da politisch herausfordern, wo wir vielleicht auch gern mal unpolitisch blieben. Was machen wir mit dem Frauenbild in den spielplanbeherrschenden Opern des 19. Jahrhunderts, deren Heldinnen für ihre Konflikte meist nur die Lösung haben, wahnsinnig zu werden, zu sterben oder sich umzubringen? Und was machen wir jetzt mit einem unbekümmerten Geniestreich der Beatles, dem Song „Back in the U.S.S.R.“ vom August 1968, in dem „Ukraine girls“ und „Moscow girls“ gleichermaßen bejubelt werden? Darf man den überhaupt erwähnen in Tagen, in denen sich Dirigenten schon dafür rechtfertigen müssen, dass sie Tschaikowskys „Pathétique“ spielen?

Um Politik kommt man nie herum. Musik und Musiker*innen kann man dagegen zum Schweigen bringen, oder man nimmt sie ernst. Das bedeutet, Widersprüche zu erleben und auszuhalten - aber auch, in ihnen einen Weg zu entdecken.